Wir holen alles nach, Martina Borger

Wir holen alles nach, Martina Borger - kekinwien.at

Der Verdacht

In ihrem gelungenen Roman Wir holen alles nach erzählt Martina Borger eine sehr gute Geschichte und beschäftigt sich mit einem wichtigen Dilemma von Frauen, die gerade eine Patchworkfamilie gegründet haben. Wenn der Verdacht besteht, dass das eigene Kind Opfer körperlichen oder auch sexuellen Missbrauchs geworden ist ist, stellt sich die Frau dann automatisch auf die Seite des Kindes, untersucht massiv die Verdachtsmomente gegen den neuen Partner und beschuldigt diesen auch noch gleich? …

Wo beginnt das aktive Wegschauen von Frauen, die Misshandlungen des Partners nicht wahrhaben wollen und wo beginnt die unfaire Verdächtigung, die eine eigentlich gute Beziehung zerstört, weil auch das Vertrauen unnötig ruiniert wurde? Was liegt zwischen diesen Polen? Wie spielt auch das Umfeld bei den Beschuldigungen mit? Ab wann muss man sich bei Verdacht einmischen, wann ist man ungerecht? Diese leise Geschichte rollt das umfassende moralische Dilemma, mit dem eigentlich jeder, auch Menschen, die keine Kinder haben, irgendwann einmal als Zeuge konfrontiert sein könnte, richtig gut auf.

Sina hat nach jahrelanger Alleinerzieherschaft und einigen ökonomischen, beziehungsmäßigen und organisatorischen Katastrophen plötzlich den Jackpot gezogen. Ihr ständiges Betreuungsproblem löst sich unvermittelt in Luft auf, denn der Sohn Elvis ist bei der Nachbarin, der etwas einsamen Pensionistin und Buchhändlerin Ellen gut aufgehoben. Zudem hat sich Sina in einen neuen Partner, den arbeitslosen, geschiedenen Ex-Alkoholiker Thorsten Hals über Kopf verliebt, der dann auch noch einen guten Job ergattert und sein Leben endgültig in glückliche Bahnen lenkt. Alles ist total paletti, Thorsten hat zwar sein Paket an Beziehungs- und persönlichen Bürden aus der Vergangenheit zu tragen – wie eigentlich alle geschiedenen Personen eine Vorgeschichte haben – aber er ist selbstreflektiert, hat Therapie gemacht, ehrlich kommuniziert und ihr nichts verheimlicht. Er ist im Gegensatz zu ihrem unzuverlässigen Ex-Mann vertrauenswürdig, liebevoll, ein großartiger Partner und versteht sich als Vorbild und Stiefvater mit Elvis recht gut.

Bis zur Seite 100 transformiert sich das bisherige Chaosleben von Sina in eine glückliche Wohlfühlwelt, die Autorin stellt so nebenbei auch noch alle Figuren liebevoll auf und entwickelt sie ebenso. Doch im Hintergrund wabert schon bedrohlich irgendein Ungemach – so wie der drohende Hintergrundton in Filmen wie Der weiße Hai – was dem Leser doch einiges an Dramaturgie und Spannung beschert.

Leider dauerten mir persönlich dieses Vorgeplänkel und das Aufstellen der Figuren um eine Nuance zu lange. Erst auf Seite 209 kommt das eigentliche Drama heraus – das war mir dann um hundert Seiten zu wenig zügige Dramaturgie und Tempo. Bitte versteht mich nicht falsch, das ist mein Jammern auf hohem Niveau und ich erkläre dadurch lediglich bei einer Fünf-Sterne-Bewertung den Abzug eines Sternes. Das Buch ist trotzdem sehr gut.

Dann steht die Katastrophe unvermittelt quasi wie eine dunkle Wolke im Raum und in Sinas Leben. Nach einem Wochenende inklusive Campingausflug mit Thorsten und einer Übernachtung bei Elvis Freund hat Ellen bei Elvis Verletzungen am ganzen Körper festgestellt. Der Junge möchte nicht darüber reden und es bringt gar nichts, in ihn zu dringen. Zuerst versucht Sina noch zu verdrängen, was Ellen ihr erzählt hat, aber nach ein paar Wochen bemerkt auch die Lehrerin blaue Flecken. Fest steht, während der Übernachtung bei Elvis Freund ist nichts passiert und Elvis und Thorsten haben miteinander ein Geheimnis. Für die Mutter bricht die ganze idyllische Familie mit einem Schlag auseinander und irgendwann kann sie die Augen auch nicht mehr vor ihrem Verdacht verschließen. Sie konfrontiert Thorsten mit ihren vermuteten Beschuldigungen. Schließlich muss sie als gute Mutter diese Frage bohrend stellen. Leider zerbricht die noch sehr junge, bisher glückliche Beziehung sofort, Thorsten kann das mangelnde Vertrauen nicht akzeptieren und trennt sich schlagartig. Aber auch andere Kollateralschäden wurden in unterschiedlichen Beziehungen verursacht, sie sind fast alle kaputt, denn Ellen macht sich Vorwürfe, vielleicht überreagiert zu haben, Sina will mit Ellen nichts mehr zu tun haben und dadurch kann auch Elvis mit seiner guten Freundin nichts mehr unternehmen.

Lange weiß auch die Leserschaft nicht, ob Thorsten schuldig ist oder nicht. Eine Wendung im Plotfinale spielt dann noch einmal grandios mit der berechtigen Thematisierung dieses Dilemmas, in dem alle beteiligten Personen verstrickt sind und dem Umstand, dass solch ein zu schnell geäußerter Verdacht auch eine Menge unfairen Schaden anrichten kann, indem er an Unschuldigen kleben bleibt. Irgendwie hatte ich in diesem Szenario mit allen Figuren, die Opfer der Umstände geworden sind und dadurch alle auseinander gerissen wurden, beziehungsweise deren Positionen und Nöten Verständnis und Mitgefühl. Das war richtiggehend herzzerreißend, wie gute Menschen, die sich alle richtig verhalten, trotzdem völlig ausweglos in solche Katastrophen schlittern können. Am Ende gibt es einen kleinen Silberstreif am Horizont, der aber nur als Möglichkeit angedeutet wird.

Fazit: Eine sehr einfühlsame, äußerst sensible Auseinandersetzung mit dem Thema Patchworkfamilie und Missbrauch von Kindern. Ein ausgezeichnetes Psychogramm der Figuren und ein Plot, der ein wichtiges Thema von vielen Seiten beleuchtet. Lesenswert!

 

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Installation zum Buch ‚Wir holen alles nach‘ von Martina Borger, Idee und Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at)

 

 

Wir holen alles nach
Martina Borger

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe
  • ISBN: 9783257071306
  • Sprache: Deutsch
  • Ausgabe: Fester Einband
  • Umfang: 304 Seiten
  • Verlag: Diogenes
  • Erscheinungsdatum: 25. März 2020
  • gesehen um Euro 22,90

(Beitragsbild: Installation zum Buch ‚Wir holen alles nach‘ von Martina Borger, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at)

 

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