Die Welt war eine Murmel, Herbert Dutzler

Die Welt war eine Murmel, Herbert Dutzler - kekinwien.at

Zurück in die 1960er – eine herzerwärmende, vergnügliche Reise

Herbert Dutzler hat das Kriminalgenre vorläufig an den Nagel gehängt und mich mit seinem neuesten Roman Die Welt war eine Murmel berührt und verzückt. Er wirft uns Leser*innen mitten in die Welt der späten 1960er Jahre. Und er schafft es, mit einer sehr grandiosen stilistischen Konstruktion gleichzeitig die guten Momente dieser Zeit hautnah aus der Sicht eines zehnjährigen Kindes zu präsentieren, aber auch die unangenehmen, schlechten Aspekte dieser Ära pointiert, ironisch, aber dennoch ernsthaft anzusprechen. Das hat mir ausnehmend gut gefallen.

Sowohl die Vorteile als auch die Nachteile meiner Kindheit werden ironisch aufgearbeitet, denn nichts hasse ich mehr als den Kulturpessimismus meiner Generation à la „Früher war alles besser“. Denn nicht alles war früher besser, wenn jeder meiner Altersgruppe ehrlich reflektieren würde, lag einiges in dieser Zeit ordentlich im Argen.

Aber wie schafft Dutzler es, sowohl authentisch aus der Sicht und mit dem Mindset eines zehnjährigen Kindes diese vergangene Welt wiederaufleben zu lassen und gleichzeitig auch aus der heutigen Sicht mit dem gegenwärtigen Wissen und mit den Worten eines Kindes die alte Zeit augenzwinkernd zu kritisieren, ohne diese Konstruktion unglaubwürdig klingen zu lassen? Das ist schnell erklärt: Der erwachsene Siegfried findet beim Ausräumen der Wohnung seiner Mutter mehrere Kartons mit Fotos und Erinnerungsstücken, die seine Mama aufbewahrt hat. Er setzt sich nieder und erinnert sich an seine Kindheit. Sobald diese Rückblende stattfindet, ist er wieder ganz der kleine Bub in seiner Sprache aber eben mit dem heutigen Erfahrungsschatz eines Erwachsenen, wobei er in Kindersprache natürlich Sachen reflektiert, über die sich ein Kind der 1960er nie Gedanken gemacht hätte, denn die Situation war eben so wie sie war, man kannte sie nicht anders. Diese Konstruktion macht die Erinnerung an das Ende der 1960er Jahre doppelt so vergnüglich.

Da werden ebenso die ersten Phasen der Technologisierung und ihre Tücken aufs Korn genommen, der Kulturschock des ersten Italienurlaubs, die offen zur Schau getragene Nazi Einstellung des Großvaters, dem niemand widerspricht, die gesellschaftlich erzwungene devote Haltung von Mutti, die schwarze Pädagogik, die psychische und physische Gewalt an der Schule, die total verkorkste Moral in den Familien, die durch die Umstände begründete mangelnde Hygiene, das allseits gegenwärtige Rauchen und so weiter … . Wer sich nun bei den Nachteilen dieser Zeit ein Lamento erwartet, der ist so was von auf dem Holzweg. Durch die oben beschriebene stilistische Konstruktion und die Kindersprache ist das ganze brüllend komisch. Sie dienen dem Motto „Was der kleine Siegfried gefragt und gesagt haben würde, vielleicht auch gedacht, aber nie ausgesprochen hat, wenn er mal ein bisschen in die Zukunft hineinschnuppern hätte dürfen“. Aber auch die sehr häufig präsentierten Vorteile der guten alten Zeit sind genauso liebevoll präsentiert. Da entschlüpfte mir oft ein entzücktes „Hach bei mir war es auch so“.

Nun werden sich die Jüngeren unter Euch fragen: „Ist dieser Roman von Herbert Dutzler nur zum Erinnern für die Omageneration gedacht?“ Das weiß ich zwar nicht mit Sicherheit, aber ich glaube, die Geschichte gibt auch einen authentischen Einblick für Kinder und Kindeskinder, die die Gute Alte Zeit, von der ihre Eltern und Großeltern immer erzählen, mit all ihren Tücken sehr intensiv kennenlernen wollen und sich dabei auch noch köstlich amüsieren mögen. Dabei könnte dann auch noch das eine oder andere Argument dabei abfallen, wie man dem Kulturpessimismus der Alten ganz schnell den Zahn ziehen kann

Aber nun genug der theoretischen Schilderung, hier kommen ein paar der köstlichsten praktischen Beispiele wie sich Sigi hautnah erinnert.

Die Tücken der Technik:

„Ja und der Viertelanschluss. Du kriegst ein Telefon, aber sozusagen mit drei anderen gemeinsam. Die anderen drei Telefone stehen in andern Häusern oder Wohnungen. Wenn einer von denen telefoniert, ist bei Dir Pause. Und wenn Du das Pech hast, dass du mit dem Dauertelefonierer zusammengeschlossen bist, dann kannst du es dir sogar abschminken, die Rettung zu rufen, wenn du dir einen Finger abgehackt hast.“

Das permanente Gepofel (Rauchen), auch in Gegenwart der Kinder:

„Sie hat auch überhaupt keine Gelegenheit für Debatten, denn der Bus ist schon losgefahren. Dicke Rauchschwaden ziehen über mich hinweg, denn nach der Abfahrt haben sich alle Passagiere – sozusagen zur Feier des Tages – Zigaretten angezündet. So etwas wie Rauchverbot, das gibt es nicht. Geraucht wird ständig und überall. Es gibt zwar Gerüchte, dass das Rauchen ungesund sei, aber niemand glaubt ernsthaft, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Lungenkrebs, an dem die Hälfte der Männer stirbt und dem Rauchen geben könnte.“

Die offen zur Schau gestellte und allgemein akzeptierte Fremdenfeindlichkeit:

„Ich muss mir vor der Grenze noch Zigaretten kaufen. Wer weiß, was die Katzelmacher da unten für ein Zeug rauchen. Katzelmacher, das ist die inoffizielle Bezeichnung für Italiener: Meine Eltern machen keinen Hehl daraus, dass sie die Italiener für faule, primitive Menschen halten. Ich habe noch nie jemandem zugehört, der anders denkt, und niemand macht meinen Eltern deswegen den Vorwurf, sie seien Rassisten.

Siegfrieds Opa ist überhaupt der schlimmste Nazi, der den Eltern zwar peinlich ist, aber dem nie jemand widerspricht, auch wenn er die widerlichsten, menschenfeindlichsten Beschimpfungen vom Stapel lässt. Er hat seinen Sohn übrigens Adolf genannt, was während der Grenzkontrolle mit den Carabinieri zu einer vergnüglichen Episode führt, denn der Italiener flirtet zuerst ein bisschen mit Sigfrieds Mutter und als der Vater eifersüchtig wird, streckt der Grenzbeamte bei der Passkontrolle ob des Vornamens die Hand hoch und schreit „Meine Fuhrer!“. Adolf, Siegfrieds Vater hat sich übrigens seit der Hochzeit noch nicht einmal eine einzige Semmel selbst aufgeschnitten, denn so etwas ist die Arbeit der Ehefrau. Die einzige Tätigkeit, die er im Haushalt durchführt, ist das Holen und das Öffnen der Bierflaschen, denn das wäre für die Frau wirklich zu viel verlangt, da sie seinen etwas übermäßigen Alkoholkonsum nicht billigt.

Nach dem Italienurlaub wird Siegfried im weit entfernten Gymnasium eingeschult, in dem er auch ordentlich zu kämpfen hat, denn er ist ein kluger, sehr wissbegieriger Junge – früher nannte man die Streber – zudem blind wie ein Maulwurf mit einer dicken Brille und ordentlichem Übergewicht, also das perfekte Mobbingopfer. In alten Zeiten kannte man diese Bezeichnung nicht, nannte einen Überfall auf so ein Kind übrigens Rauferei und bestrafte meist das Opfer. Die Gewalt und die Prügel, die die Kinder regelmäßig von ihren Eltern bezogen, wurden dann in einem Teufelskreis an die Schwächsten und Unbeliebtesten in der Schule weitergegeben.

Der kleine Siegfried zeigt auch schon früh sein Talent zum Schriftsteller, was möglicherweise sogar autobiografische Züge aufweist, aber er möchte auch alternativ Astronaut oder Koch werden. Mit seinem Karrierewunsch zum Koch hat die Familie, respektive der Vater, aber ordentliche Probleme, denn Küchenarbeit ist nichts für einen Mann und die Panik der Eltern, dass das Kind durch unmännliche Aktionen ganz plötzlich schwul werden könnte, ist permanent präsent.

Selbstverständlich ist Sigi nicht schwul, im Gegenteil, er holt sich seine ersten optisch-erotischen Erlebnisse aus dem Versandhauskatalog.

„Seine Familie – und wahrscheinlich das ganze streng katholische Kastenkirchen – hatte damals ja ein Problem mit nackter Haut. Nackte Haut bekam man bestenfalls im Schwimmbad zu sehen, oder eben im Versandhauskatalog, denn da gab es auch Damenunterwäsche zu kaufen. Er hatte es aufregend gefunden, die Seiten durchzublättern, auf denen Unterkleider, Mieder und Nylonstrümpfe angeboten wurden. Was auf der gleichen Seite auch angeboten wurde, waren zwei verschiedene Massagestäbe, mit denen man sich, wie man der Abbildung entnehmen hatte können, die Wangen massieren konnte.“

Das war jetzt für mich als Frau auch eine komplett neue Info, denn ich trieb mich ja als Mädchen nie auf den Unterwäscheseiten herum, dass Vibratoren auf diese Weise angeboten wurden. Habe dann meinen Mann gefragt und der hat das bestätigt, denn fast jeder Junge hat sich damals die Unterwäscheseiten angeschaut. Wieder etwas gelernt.

So geht die Reise in Sigis Jugend vergnüglichst weiter, über die Mondlandung 1969, den fürchterlichen Sportunterricht, den Versuch, die Pizza aus Italien nachzumachen, Feste auf dem Land und in der Familie.

Fazit: Ich bin entzückt! Absolute Leseempfehlung für alle, nicht nur für die Alten. Steigt mit mir  – und Herbert Dutzler – ein in die historische Dampflokomotive und begebt Euch auf die vergnügliche Reise in die mir bekannte, aber untergegangene Welt der späten1960er Jahre. Für die einen wird es Neuland sein und die anderen werden sich schmunzelnd daran erinnern und bemerken, dass heute einiges besser ist als früher.

 

Collage zum Roman: Die Welt war eine Murmel, dem neue Buch von Herbert Dutzler, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker - kekinwien.at

Collage zum Roman: Die Welt war eine Murmel, dem neue Buch von Herbert Dutzler, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at

 

Die Welt war eine Murmel

Herbert Dutzler

 

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe
  • ISBN: 9783709981016
  • Sprache: Deutsch
  • Ausgabe: Fester Einband
  • Umfang: 256 Seiten
  • Verlag: Haymon Verlag
  • Erscheinungsdatum: 15. März 2021
  • gesehen um Euro 22,90

(Beitragsbild: Collage zum Roman ‚Die Welt war eine Murmel‘ von Herbert Dutzler, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at)

 

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