Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin, Thomas Meyer

Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin, Collage zum neuen Roman von Thomas Meyer, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker - kekinwien.at

Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin

Das ist der vergnügliche Titel des neuen Roman von Thomas Meyer, dem ich gerne mehr als fünf Sterne in der Bewertung gegeben hätte!

Meisterliche meschuggene Münchhausiade

Bei Jahwe, das ist der abgedrehteste wahnwitzigste amüsanteste Plot, den ich seit ungefähr 100 Büchern – also seit einem Jahr – gelesen habe. Und dazu muss ich noch anmerken, dass ich nach solchen Romanen regelrecht giere.

Die Fortsetzung von Motti (Mordechai) Wolkenbruchs Lebensgeschichte ‚Die wunderliche Reise in die Arme einer Schickse‘, die ich hier besprochen habe, startet recht unspektakulär mit dem Verstoß von Motti aus seiner Mischpoche, weil er sich mit ebendieser Schickse eingelassen hat und sich von seiner Mame in flagranti erwischen ließ.

Aus der Depression reißt unseren Protagonisten ein Herr Hirsch, der von den verlorenen Söhnen Israels gesendet, Wolkenbruch nach Tel Aviv in einen Kibbuz verfrachtet. Diese Gemeinschaft von weniger als zehn Mitgliedern, die eine Orangenplantage betreibt, ist aber in Wahrheit nichts anderes als der Sitz der jüdischen Weltverschwörung. Wobei ein solcher dilettantischer Geheimbund mit so wenigen Mitgliedern ja schon per se grotesk anmutet, sich aber im Laufe der Geschichte und unter Wolkenbruchs späterer Leitung als effektiver als erwartet entpuppt.

„Aber … wieso wollt ihr die Welt beherrschen? Ich dachte, das sei eine Idee der Antisemiten?“, fragt Motti, nachdem der Gesang verebbt ist.
„Ist es auch“, sagt Steve, „aber wir finden sie gut und wollen sie in die Tat umsetzen.“

Als Kontrapunkt setzt der Autor einen zweiten Erzählstrang ein, der auf den ersten Blick ultraschräg und komplett durchgeknallt anmutet, aber nach und nach wie in einem Puzzle die Teile punktgenau für die perfekte Räuberpistole ineinander gleiten lässt. Nach dem Einmarsch der Amerikaner 1945 spielen ein Obersturmbannführer und ein Bierbrauer in Bayern inmitten der amerikanischen Besatzung unentdeckt und langfristig Klein-Nazistan mit einem neuen Führer in einem verborgenen Tunnelsystem in den Alpen. Mehrere unbekehrbare Familien haben sich im neuen Reich dort angesiedelt, sogar KZ-Häftlinge haben sie wieder. Mit den Jahrzehnten hat sich auch die Nazigesellschaft professionalisiert und gemäß ihrer Tüchtigkeit die Reichsflugscheiben durch einen Forellenantrieb als Perpetuum Mobile konstruiert, um den 3. Weltkrieg und die Weltherrschaft der Nazis anzuzetteln. Leider ist der gekidnappte jüdische Wissenschaftler, der den Antrieb in Zwangsarbeit konstruieren musste, mit ebendieser Reichsflugscheibe nach Israel abgehauen, was den Kriegsplänen der Nazigesellschaft den Zahn zieht. In den folgenden Generationen erfinden die Nazis dann das Internet (vulgo ‚Volksnetz‘) und die Social Media Desinformationskampagnen.

Einstweilen ist Motti zum Chef der jüdischen Weltverschwörung aufgestiegen, kapert und reprogrammiert durch einen jiddischen Freund, der bei Google arbeitet, heimlich das Alexa-System, das fortan eine jiddische Seele besitzt und Schoschanna heißt. Gemäß der psychologischen Regel, dass Fremdenfeindlichkeit und somit auch Antisemitismus dadurch entsteht, dass sich die Menschen vor Unbekanntem fürchten, werden die Internetnutzer nun massiv mit jiddischen Empfehlungen konfrontiert, was einen richtiggehenden Hype in Gastronomie, Lifestyle und allem anderen auslöst.

Außer den Nazis in ihrer Bergfestung mit ihrer professionellen IT-Abteilung von Influencern hat diese Verschwörung und die Urheber derselben aber kaum jemand registriert. Nun erfolgt wie in einer James-Bond-Agentengeschichte die passende Gegenreaktion mit der Konzeption eines intelligenten Hass-Algorithmus und mit einer Nazi-Geheimagentin, die sich an Mottis Fersen heften soll, um ihn auszuschalten. Das Ende ist wie der gesamte Roman ein Feuerwerk von genialen meschuggenen Ideen, selbstverständlich basierend auf realen Voraussetzungen, mit einer großen Liebesgeschichte und der Mame Wolkenbruch, die mit ihrer typischen jiddischen Art letztendlich die ganze Welt vor dem Untergang rettet.

Dieser Folgeroman übertrifft den ersten Teil bei weitem an Witz und Qualität durch seinen Wahnwitz. Die ganze Story fährt wie eine Reichsflugscheibe mit Unmöglichkeitsantrieb punktgenau ins Ziel der Unterhaltung, nimmt reale Ereignisse her und dreht sie abwechselnd durch den Nazi- oder Jiddischen Reißwolf. Die wissenschaftlichen Grundlagen und Gedankengebäude in dieser Parallelwelt existieren ja in der Realität tatsächlich, wenngleich sie einerseits nie zum Funktionieren gebracht wurden, wie der Forellenantrieb und die Reichsflugscheibe des österreichischen Naturforschers und Parawissenschaftlers Viktor Schauberger, und eben andererseits real existieren, aber von anderen Wissenschaftlern unter anderen Prämissen erfunden wurden. Sprachlich kann der Roman ebenso als ein Feuerwerk an intelligenten Formulierungen und Wortwitz bezeichnet werden.

„Als Nächstes ist der amerikanische Investor George Soros an der Reihe, verunglimpft zu werden. […] Die Leute flippen völlig aus, entrüsten sich zu Tausenden über Soros‘ vorgebliche Aussage und nennen ihn einen ‚antichristischen Verschwörer‘. Praktisch alle Nutzer des Volksnetzes folgen mittlerweile dem neogermanischen Narrativ, demzufolge Soros das Abendland zerstören will, indem er gezielt Flüchtlingsströme dorthin lenkt. Zu Wolfs Amüsement fragt nie jemand nach, wie es ein einzelner Mann fertigbringen soll, Millionen von Menschen davon zu überzeugen, eine entbehrungsreiche Reise in einen anderen Erdteil auf sich zu nehmen. […] Dabei sind die Menschen nicht dumm, sie sind bloß zu faul, die Dinge zu durchdenken, gegen die sie sind.“

Kaum begeben sie (die Nutzer) sich mit ihren Texten in die Nähe von liberalem Gedankengut, stehen sie sofort in repetitivem und grammatikalisch dubiosem Kreuzfeuer.“

Bei allem Humor und der Prämisse, dass eben in dieser Geschichte ausnahmsweise die im Berg hausenden Cyber-Nazis diesen Mumpitz verzapfen, kann das Buch auch als Lehrstück für den Social-Media-Nutzer gesehen werden, nicht jede Hassbotschaft im Netz zu glauben.

Ich konnte beim Lesen dieses Buchs tatsächlich nicht verhindern, beim Arzt wie irre vor mich hin zu kichern. Gottseidank saß ich beim Orthopäden und nicht beim Neurologen, sonst hätten sie mich eingeliefert. Auf jeden Fall bin ich im Wartezimmer unangenehm aufgefallen.

Fazit: Mumfug und Schwachpitz in höchster jiddischer Perfektion. Ein absolutes Lesehighlight des Jahres für mich, aber sicher nicht für jeden geeignet. Man sollte schon ein Faible für schräge Stories haben, sonst ist der Plot viel zu abgedreht.

 

 

Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin, Collage zum neuen Roman von Thomas Meyer, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker - kekinwien.at

Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin, Collage zum neuen Roman von Thomas Meyer, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at

 

Wolkenbruchs waghalsiges Stelldichein mit der Spionin, Thomas Meyer

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe
  • ISBN: 9783257070804
  • Sprache: Deutsch
  • Ausgabe: Fester Einband
  • Umfang: 288 Seiten
  • Verlag: Diogenes
  • Erscheinungsdatum: 25. September 2019
  • Buch gesehen um rund Euro 25,00
  • Das aktuelle Hörbuch ist am 25. September 2019 bei Diogenes erschienen.

 

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