Nerds retten die Welt, Sibylle Berg

kekinwien - Nerds retten die Welt

Runter vom Elfenbeinturm, hinter die Kulissen der Wissenschaft geblickt

Als ich hörte, dass es ein Buch mit dem Titel Nerds retten die Welt von Sibylle Berg gibt, war mir sofort klar: Das muss ich haben!
Schließlich arbeite ich bereits seit 1990 auf einigen Universitäten und bin ganz konkret fast immer auf den Wissenschafts-Nerd-Instituten beschäftigt. Sibylle Bergs Werk ist ein sehr innovativer, größtenteils ungemein spannender Beitrag zur Funktionsweise und zum Einblick in die Wissenschaft, der aber gegen Ende des Buchs das prinzipiell sehr gute Konzept mit sehr schlecht gewählten Interviewpartnern und schlecht gestellten Fragen noch ganz schön arg vergeigt.

Also, das Konzept ist, dass die Autorin mit Wissenschaftlern aus sehr unterschiedlichen Fachgebieten Interviews führt. Dabei werden die Forschungsgegenstände der Befragten, ihre Einschätzung zur Lage der Welt und den Beitrag ihrer Wissenschaft zur Gesellschaft insgesamt thematisiert. Dadurch, dass Berg im Rahmen der Interviews über weite Strecken des Sachbuchs wirklich gute, ausgesprochen kluge und spannende Fragen stellt, gibt dieses Werk einen ausgezeichneten, recht detaillierten und meist auch einfach erklärten Einblick hinter die Kulissen der Forschung und der sonst eher wenig allgemein bekannten wissenschaftlichen Arbeit.

Zudem ist der Umgang mit Quellen und Zusatzinformationen in diesem Buch topmodern, innovativ und ultragenial: Weiterführende Links zu Quellen wurden mit einem QR-Code am Seitenrand versehen und können mit einem kurzen Scan angesteuert werden. Mit der Erkennung des QR-Codes durch den Scanner Beep kann in Webseiten, Lebensläufen der Interviewten, erwähnten Statistiken und Youtube-Videos etc. ausführlich geschmökert werden.

Zunächst konnte ich nicht in den Genuss dieser sensationellen Mediennutzung kommen, da bei meinem Ersatz-Handy – das letzte hatte vor einem Monat schon wieder den typischen Hosentaschen-Unfall und ist in der Toilette gelandet – der QR-Reader nicht installiert war und ich zuerst mein iTunes Passwort verschusselt hatte. Nach der Installation – am längsten dauerte die Suche nach dem Passwort – gab es noch ein paar persönliche motorische Troubles. Ich bin ja auch schon altersweitsichtig (bei uns sagt man „schasaugat“) und ein bisschen zittrig mit den Händen (also „patschert“) und traf mit der Scanning-Kamera zu Beginn den QR-Code nicht punktgenau, sodass er anfangs oft erst nach drei bis fünf Versuchen korrekt im richtigen Abstand lokalisiert werden konnte: Entweder ich war zu nahe, zu weit rechts/links, zu weit entfernt oder zu schief mit der Kamera. Als ich mich aber an die Fokussierung gewöhnt hatte – so nach den ersten 100 bis 150 Seiten – funktionierte es super, und die zur Verfügung gestellten Zusatzinformationen waren großartig und alle Mühe wert. Leute, die technisch nicht firm sind oder kein Handy haben, werden das Buch ohne QR-Scanning zwar auch genießen können, aber es fehlen eben die genialen Hintergrundinfos, die ich als ausgewiesener Nerd so schätze.

Die Interviews mit verschiedenen Wissenschaftlern sind gelegentlich zwar nicht für jedermann, waren aber über weite Strecken für mich punktgenau passend und teilweise großartig. Am besten gefielen mir jene mit einer Pathologin, einer Gesellschafts- und Femizidforscherin, mit dem IT-Professor und Systemtheoretiker aus Delft und jener Wissenschaftlerin, die zusammen mit einer Künstlerin mittels eines 3D-Drucker das Modell einer Klitoris entworfen und umgesetzt hat (https://vimeo.com/166628201). Dieser spannende Querschnitt durch die unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen in den unterschiedlichsten Ländern war fantastisch.

Mit zunehmendem Fortschritt so ca. ab Seite 280 stellten sich aber erste Irritationen ein. Oftmals mussten sowohl Berg, als auch die Interviewten sprachlich mit ihrem wissenschaftlichen Fachchinesisch zu stark intellektuell auftrumpfen, ohne dass Berg als Interviewerin das Wording populärwissenschaftlich simplifizierte, im Gegenteil, sie schaukelte dieses unnötige Gebaren oft auch noch auf, indem sie zusätzlich Fachausdrücke hinein schwurbelte, ohne sie zu erklären, um zu demonstrieren, dass sie intellektuell ebenbürtig ist. So etwas hat in einem populärwissenschaftlichen Buch einfach nichts verloren.

Ein weiteres Ärgernis nervte mich gegen Ende der Interviews noch mehr. Berg geht so ungefähr ab den letzten drei Interviews von einem falschen historischen Narrativ aus und fragt ständig alle Gesprächspartner, warum Frauen sich per se nicht für Programmierung interessierten, beziehungsweise nicht begabt für Technik sein sollten. Das könnte wirklich besser recherchiert sein. In den historischen Beginnzeiten der Programmierung, als die Rechner noch mit Lochkarten gesteuert wurden, war diese Aufgabe fast ausschließlich Frauenarbeit, weil sie als eine Erweiterung der Sekretariatsarbeit stattfand. Nur weil diese Arbeit, als sie nach der Mondlandung wichtig und „technisch“ wurde, von Männern übernommen wurde und gleichzeitig die von Frauen erbrachten Leistungen unter den Tisch gekehrt und Männern zugeschrieben wurden, heißt das nicht, dass Frauen nicht technisch bzw. programmiertechnisch begabt sind. Das ist tatsächlich eine reine Umweltproblematik, da dieses mangelnde technische Verständnis Mädchen schon in jüngsten Jahren eingeredet wurde, beziehungsweise ist das auch heute noch gängige Praxis in den Schulen und auf den Universitäten. Dieser Umstand wird aber bei all diesen Diskussionen weder von Berg, noch von ihren Interviewpartnern thematisiert. Im Gegenteil, die meisten unterstützen diese These zumindest vage und übernehmen diese ganz und gar falsche Darstellung. Für die nahezu ausschließlich von Frauen erbrachten Leistungen in den Anfängen der Informatik gibt es genug historische Belege und wenn man denn wollte, könnte man dieses hartnäckige, falsche und extrem sexistische Narrativ sogar nur mit einer einzigen Wikipedia-Suche ausräumen und zertrümmern: https://de.wikipedia.org/wiki/Frauen_in_der_Informatik (Ich rede hier übrigens nicht davon, dem Wikipedia Eintrag ohne Recherche zu glauben, sondern davon, den vielen historischen Quellen zu folgen, die in diesem Eintrag stehen.)

Fazit: Ein gutes Buch, das die Wissenschaft aus dem Elfenbeinturm herausholt, ihren Beitrag zur Gesellschaft erklärt, und das mit innovativer Quellentechnik arbeitet. Ich spreche sehr gerne eine bedingte Leseempfehlung aus, wenn die letzten drei bis vier Interviews weggelassen, beziehungsweise nicht gelesen werden. Natürlich ist das Buch nichts für Leute, die nicht an Wissenschaft „glauben“. ?

 

Nerds retten die Welt, Sibylle Berg, Komposition (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker - kekinwien.at

Nerds retten die Welt, Sibylle Berg, Komposition (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at

 

Nerds retten die Welt
Sibylle Berg

 

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe
  • ISBN: 9783462054606
  • Sprache: Deutsch
  • Ausgabe: Fester Einband
  • Umfang: 336 Seiten
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Erscheinungsdatum: 5. März 2020
  • gesehen um rund Euro 20,00

(Beitragsbild: Nerds retten die Welt, Sibylle Berg, Komposition (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at)

 

Keker Tipp: Die Bedeutung von Frauen in der Technik im Rahmen der Mondlandung und das Thema Diskriminierung auf Grund der Hautfarbe  werden im Film Hidden Figures kurzweilig und hochkarätig besetzt abgehandelt, zu sehen auf Netflix und DVD.

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