Das geraubte Leben des Waisen Jun Do

Das_geraubte_Leben...(c)Alexandra_Wögerbauer_Flicker_kekinwien.at

Surrealer, total wahrer Wahnsinn im Operettenstaat Nordkorea

Der 2013 mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete Roman ‚Das geraubte Leben des Waisen Jun Do‘ von Adam Johnson ist bedauerlicherweise bisher völlig an mir vorübergegangen. Dann entdeckte er mich kürzlich zufällig auf dem Weg zu einer Aussichtsplattform, ich stolperte quasi über ihn. Am Tag der Annäherung von Nord- und Südkorea beschloss ich nun, dass es Zeit sei, mich mit diesem Werk zu beschäftigen.

Wahnsinn! Ich fasse noch immer nicht, was mir bisher entgangen ist. Da bin ich doch glatt unvermutet über eine Perle, ein Kleinod gestolpert …

Der Waise Jun Do hat kein eigenes Leben, keine Familie. Sein ganzes Dasein und sein Lebenszweck sind dem großen Führer Kim Jong Il (als Stellvertreter natürlich den ausführenden Parteibonzen), seinen Bedürfnissen, Wünschen und Forderungen gewidmet. Durch diese Konstellation schlittert und laviert Jun Do durch ein atemberaubendes, völlig fremdbestimmtes Leben, das in seiner Grausamkeit tragisch, episch und opernhaft, in seiner Groteskheit und Absurdität aber fast operettenhaft wirkt. Beinahe so wie wir uns den geliebten Führer Nord-Koreas vorstellen, so wie uns dieser wahnwitzige eitle Zwerg in den Medien präsentiert wird.

Ich hoffe, ich kriege die Analogien richtig zusammen, denn der Stil dieses irrwitzigen Entwicklungsromans ist einzigartig. Der Roman hat mit seiner lapidaren Grausamkeit sehr viel von Remarques ‚Im Westen nichts Neues‘ gemischt mit sehr viel Kafka, und einem Schuss Anarchie der Monty Pythons, aber nicht die humorvollen Szenen sondern die brachial-grotesken. Somit werden die nicht selten sehr gewalttätigen Sequenzen etwas verträglicher, weil sie durch die Absurdität ein bisschen weniger realistisch wirken.

Das wahre Leben hatte ihn wieder – man hatte ihn für eine neue Aufgabe eingeteilt, und Jun Do machte sich keine Illusionen darüber, was das bedeuten mochte. Er drehte sich wieder zu den Anzugträgern um. Sie redeten über einen kranken Kollegen und spekulierten, ob er wohl Nahrungsmittel bei sich im Haus gehortet hatte und wer die Wohnung bekommen würde, wenn er starb.

Eine kafkaeske, surreale, menschenverachtende Münchhausiade, die so perfekt mit abstrusen Fakten über Nord-Korea gestrickt und eng gewoben ist, dass man nicht erkennt, wo die Wahrheit aufhört und die Fiktion beginnt – ich bin ENTZÜCKT!

Beispielsweise entführen die Nordkoreaner in China, Japan und Südkorea massenweise Personen, die irgendjemand haben will: den Sushi Koch und den Leibarzt für den geliebten Führer, Frauen für Generäle, Schauspieler für die Filmindustrie … Anfangs dachte ich mir noch, dieses abstruse ‚Gschichtl‘ ist gut erfunden. Später empfand ich es als so arg, dass es schon wieder wahr sein könnte. Nach einer ausführlichen Recherche, ob so etwas wirklich im großen Stil stattgefunden hatte, fiel ich aus allen Wolken: Das ist tatsächlich in der Realität so passiert. Das geschiedene Schauspielerehepaar wurde aus Südkorea entführt, die Schauspielerin ist tatsächlich bei einer Auslandstournee geflüchtet und hat in Wien um politisches Asyl angesucht. Massenweise Japaner wurden entführt, um als Sprach- und Japanischlehrer zu fungieren, damit die Koreaner in einer japanischen Passagiermaschine nicht auffallen und einen Terroranschlag durchführen konnten. Unpackbar! Insgesamt 30 Entführungen hat Nord-Korea zugegeben, mehr als 100 haben alleine die Japaner nachweislich dokumentiert.

Jun Do entwickelt sich im Laufe des Romans und wechselt in Folge seiner fehlenden persönlichen Identität und eines Glücksfalls auch sehr schnell zu der Identität des Generals Ga, den er in Notwehr umgebracht hatte. In einem Staat, in dem alle vorauseilenden Gehorsam gewohnt sind, müssen nur zwei bis drei einflussreiche Personen inklusive der große Führer diese Scharade unterstützen, schon folgen alle der Münchhausiade. Sogar die Ehefrau, die einen Treuetest des Führers oder ihres ehemaligen Gemahls vermutet, steigt in das Spiel ein. Zudem wird dieser Glücksfall von Jun Do noch gefördert, da Kommandant Ga einer der größten und unbeliebtesten Verbrecher des Landes war, der sogar von Kim Jong Il gehasst wird, weil sich beide gar so ähnlich sind.

In der ganzen skurrilen Geschichte steckt noch viel mehr drinnen, aber ich kann dem Ganzen gar nicht gerecht werden. Erstens wahrscheinlich überhaupt nicht in meiner Rezension und zweitens schon gar nicht, ohne massiv zu spoilern. Bei all den Absurditäten, die sich nach Recherche auf jeden Fall zu einem Großteil als wahr erweisen, ist Adam Johnson möglicherweise der tiefste, intensivste  ausführlichste und wahrhaftigste Blick auf den Operettenstaat Nordkorea mit dem Vorbild des Shogunats und in die verwirrten Seelen des geknechteten, mit Stockholm-Syndrom gepeinigten Täter- und Opfervolks zugleich gelungen.

Fazit: Einer der Höhepunkte in meinem Buchjahr – sowohl aus politischer, dramaturgischer und sprachlicher Sicht ein absoluter Knüller, der auf jeden Fall in meine All-Time-Favourites eingeht! Aber eben ein bisschen abstrus in seiner Realität und sicher nicht für Jedermannfrau geeignet.

 

Das geraubte Leben des Jun Do, Collage zum Buchcover (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker - kekinwien.at

Das geraubte Leben des Jun Do, Collage zum Buchcover (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at

 

 

Das geraubte Leben des Waisen Jun Do
Adam Johnson

 

Buchdetails:

  • Erscheinungsdatum Erstausgabe: 11. März 2013
  • Aktuelle Ausgabe: 16. Juni 2014
  • Verlag: Suhrkamp
  • ISBN: 9783518465226
  • Flexibler Einband, 685 Seiten
  • Sprache: Deutsch
  • gesehen ab Euro 11,00

(Beitragsbild: Bild zu „Das geraubte Leben des Jun Do“ von Adam Johnson (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker)

 

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