Ich wollte kein Lenin werden, Dora Čechová

KEK Ich wollte kein Lenin werden

Ostblockzusammenbruch und Beziehungen im Wandel

Ich möchte Euch erneut zeitgenössische Literatur von unseren direkten östlichen Nachbarn vorstellen: Ich wollte kein Lenin werden, von Dora Čechová. Tschechien ist ja bei sehr vielen Leser*innen abseits der zwei großen Ks Kafka und Kundera nahezu Terra incognita. Es gibt aber sehr viel Gutes in unserem Nachbarland zu entdecken.

Ein derartiges Werk, das es auch wert ist, von Deutschsprachigen erforscht zu werden, sind diese drei Kurzgeschichten, die sich vor allem mit Beziehungen beschäftigen und von Dora Cechová im Rahmen der Verlagsreihe Tschechische Auslese verfasst wurden.

Die erste Geschichte Sommeräpfel beginnt schon einmal grandios und ist eine kritische Auseinandersetzung mit den Benesch-Dekreten und deren Auswirkungen, die diese auf ein gemischtes tschechisch-deutschstämmiges Paar haben. Ulrike wird als sehr junge Frau aus Tschechien nach Deutschland vertrieben. Ihre große Jugendliebe Frantisek und sie kommen nie über dieses abrupte Auseinanderreißen hinweg. Obwohl sie eigene Familien gründen, bleiben sie einander im Geiste verbunden, irgendwie auch in einer fiktiven Beziehung verhaftet und können sich nie wirklich komplett auf neue Partner einlassen. Als 1989 der eiserne Vorhang fällt und erstmals die Möglichkeit besteht, einander wieder zu sprechen, zu treffen und zu sehen, sind beide wieder Single. Sie nutzen daher die Gelegenheit, an Vergangenes anzuknüpfen, was vorerst scheitert, denn sie sind sich fremd geworden. Trotz allem gibt es aber als Überraschungseffekt dennoch ein Happy End in dieser Liebesgeschichte.

Die zweite Kurzgeschichte Ich wollte kein Lenin werden ist inhaltlich recht kurios und sehr anrührend. Ein junger Student zieht zwecks Ausbildung vom Dorf am Schwarzen Meer nach Moskau. Als sein Studium beendet ist, bekommt er keinen adäquaten Arbeitsplatz und verdingt sich auf dem Roten Platz als Lenin-Darsteller. Seiner Mutter, die sehr viele Entbehrungen für die Ausbildung ihres Sohnes auf sich genommen hat, schildert er in höchsten Tönen ein erfolgreiches Berufsleben in seiner erlernten Branche und seine perfekte Beziehung, die bedauerlicherweise in der Realität auch sehr problembehaftet und abgekühlt ist. Als die Mutter die Hauptstadt Moskau besucht, küsst sie dem perfekten Lenindarsteller am Roten Platz, den sie nicht als ihren Sohn erkennt, die Hand und bedankt sich bei Väterchen Lenin für ihr Kind. Als sie am Abend ihren Sohn und seine Lebensgefährtin besucht, hat dieser sein Leninaussehen komplett abgelegt und spielt der Mutter das perfekte Theater vor. Die Scharade bringt aber etwas Nähe in die völlig erkaltete Beziehung des Paares. Am Ende der Geschichte fehlt leider von der Dramaturgie her ein bisschen der Spannungsbogen, insbesondere ein definitives, interessantes Ende.

In der dritten Story Der letzte Russe sucht sich die sehr pragmatische Jarmila einen russischen Soldaten, Tolja, den sie direkt aus der Kaserne in ihrem tschechischen Dorf abgeholt hat und der ihr auf dem Hof helfen soll. Da die russischen Besatzungssoldaten in den Brüderländern nicht unbedingt beliebt sind, verbirgt sie Tolja vor der Öffentlichkeit und ist auch die einzige Schnittstelle zur Kaserne. Sie macht ihm vor, dass er von niemandem vermisst wird. Nach und nach entwickelt sich in den Jahren aus der ursprünglichen Zweckgemeinschaft eine Liebesbeziehung. Inzwischen ist der Ostblock zusammengebrochen, die Kaserne wurde aufgelöst, die Soldaten nach Russland zurückbeordert und Tolja hat in seinem Beziehungskokon nicht die blasseste Ahnung davon. Als ein Exfreund von Jarmila in diese Idylle einbricht, auf das vor Ewigkeiten gegebene Heiratsversprechen pocht, die Beziehung des Paares zerstören und zu diesem Zweck Tolja nach Russland abschieben lassen will, kämpft Jarmila sehr überraschend mit recht ungewöhnlichen Mitteln darum, ihr gewohntes trautes Glück zu erhalten. Das Ende ist übrigens grandios.

Bis auf die zweite Geschichte, in der mir das Ende zu lapidar und unausgegoren war, weisen alle Stories trotz ihrer Kürze einen ausgezeichneten Spannungsbogen mit großartiger Dramaturgie auf. Die Figuren sind allesamt sehr liebevoll entwickelt und die angesprochenen Themen von Beziehungen im Wandel und in den Wirren des Umbruchs im Ostblock sind ein spannendes Feld, das meiner Meinung nach ohnehin noch viel zu wenig in deutscher Sprache übersetzt, aufgearbeitet und veröffentlicht wurde. Insofern ein wundervoller literarischer Beitrag für zeitgenössische tschechische Literatur. Bezüglich Fabulierkunst verstehen sowohl die Autorin als auch die Übersetzerin ihr Handwerk ausgezeichnet. Sehr charmant finde ich auch, dass in der Reihe immer die Biografie der Übersetzer*in gleichwertig neben der Autorenbiografie angeführt wird. Endlich einmal eine faire Würdigung dieser so wichtigen Arbeit.

Fazit: Sehr lesenswert – ich habe letztes Jahr zwar ein noch grandioseres Werk im Rahmen der Reihe auf kekinwien besprochen, aber auch diese Kurzgeschichtensammlung von Dora Čechová erhält von mir eine absolute Leseempfehlung.

 

 

Ich wollte kein Lenin werden, Dora Čechová, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker - kekinwien.at

Ich wollte kein Lenin werden, Dora Čechová, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at

 

 

 

Ich wollte kein Lenin werden, Dora Čechová

Buchdetails:

  • Aktuelle Ausgabe
  • ISBN: 9783990293393
  • Sprache: Deutsch
  • Ausgabe: Fester Einband
  • Umfang: 108 Seiten
  • Verlag: Wieser Verlag
  • Erscheinungsdatum: 21. Februar 2019
  • gesehen um Euro 17,90

(Beitragsbild: Collage zu Buch ‚Ich wollte kein Lenin werden‘ von Dora Čechová, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at)

 

kekinwien.at

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