Manaraga

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Manaraga

Grill den Dostojewski

Diese Dystopie ist derartig innovativ, wahnwitzig und abgedreht, dass sie meiner Meinung nach elf von zehn Zwangsjacken verdient und ungefähr drei Mal über das Kuckucksnest geflogen ist.

Im Jahr 2037, in einem postislamistischen Europa, das durch einen blutigen Krieg befreit wurde, delektieren sich die reichen Eliten an der Verbrennung von Büchern, respektive an geklauten Erstausgaben, auf denen am Rost einfache Gerichte gegrillt werden. Lesen als Kulturkompetenz hat ohnehin ausgedient, denn sogenannte im Körper implantierte Flöhe – Nanorobots – in grün, rot und blau regeln sowohl Kommunikation, die medizinische Herstellung eines Wohlfühlstatus durch „Medikation“ und die Wissensleistung wie Denken, Lesen, Rechnen und anderes. Bücher als Massenmedium gibt es schon lange nicht mehr, denn alles ist digitalisiert.

In den von den Mudschaheddin befreiten Staaten haben sich quasi als Gegenentwurf zu unserer derzeitigen Wissensgesellschaft, mittelalterliche Lebensstile erneut etabliert. Manche Staaten haben Aristokratien herausgebildet, manche werden feudalistisch von kriminellen Clans und Warlords regiert. Die gebildeten Schichten sind infolge der technologischen Helferleins zumindest sekundäre Analphabeten, wenn nicht primäre, auf jeden Fall sehr denkfaule Ablehner von Wissen. Auch die Sitten des Essens manifestieren diese einfachen, primitiven gewalttätigen mittelalterlichen Strukturen, denn die Erstausgaben, auf denen einfache Gerichte gegrillt werden, müssen noch gewalttätig aus Museen unter Verlusten von Museumswärtern und anderen Bewachern geraubt werden.

Chefkoch Geza, Spezialist für russische Literatur, ist einer dieser Starköche der Untergrundbewegung der Book’n’Griller, den die Eliten für teures Geld engagieren, um den Thrill brennender Erstausgaben zu erleben. Was die normale Bevölkerung in dieser dystopischen Zukunft macht, wird zwar nicht beschrieben, bei den Reichen bekommen aber alle in einem Rundumschlag ihr Fett ab. Norweger, Juden, Rumänen, Schweizer, …

Das ganze Werk weist eine so hohe aber in sich konsistente Absurdität auf, dass es eine Freude ist und spart natürlich nicht an beißender Gesellschaftskritik. Diese ist aber in derart vielen Ebenen – quasi META – eingeflochten, dass sie mich, obwohl sehr innovativ, doch frappant an einen großen Autor der klassischen osteuropäischen Science Fiction, Stanislaw Lem, erinnert. Lem hat immer auf derart vielen Ebenen indirekt das gegenwärtige System kritisiert, dass seine Werke relativ locker an der Zensur vorbeikamen, denn sie konnten ja auch durchaus anders interpretiert werden. Vor allem jene Geschichte Lems, in der ein Institut eine Wissenschaftsdisziplin erfindet, um Fördergelder abzugreifen und auf einer Insel landet, die so korrupt ist, dass die Korruption nicht mehr funktioniert, erinnert mich in seinem Wahnwitz sehr an diesen Plot. Auch Sorokin musste (wollte) sich offensichtlich in der Anlehnung an die Vergangenheit dieser literarischen Technik bedienen.

Die irrsinnigen innovativen Ideen von Sorokin gehen im Roman natürlich weiter, wie Schaschlik gegrillt über Dostojewskis Idiot oder Schnitzel über Schnitzler, aber mehr als ein paar Highlights aus den ersten Kapiteln möchte ich Euch nicht verraten, um Euch den Appetit auf das Buch nicht zu nehmen. Eine weitere Meta-Ebene in diesem Roman sind die vom blauen Nanoroboter vorgelesenen Originalwerke, oft lassen sich einige zeitgenössische Autoren sogar ihr eigenes Geschreibsel grillen. Wahrscheinlich ein Ausdruck von Eitelkeit.

Auch der Plot bewegt sich konsistent auf eine Krise zu. Die Grillmeister haben eine neue Technologie identifiziert, die exakte Kopien von Erstausgaben auf Molekularebene in Zehntausenderauflagen produzieren kann, was natürlich den gesamten illegalen exklusiven Markt der Erstausgabenverbrennung zusammenbrechen lassen könnte. Geza wird von der Gilde der Köche damit beauftragt, zu verhindern, dass das Buch wieder zum Massenmedium werden könnte. Wohin sich die Zukunft der dystopischen Welt dann entwickelt, werde ich jetzt verschweigen, es ist so genial, aber Ihr müsst es selbst lesen.

Fazit: Dieser Roman ist nur etwas für jemanden, der abgedrehte Geschichten liebt. Ich bin jedenfalls restlos begeistert. Eines meiner Highlights im Jahr 2018.

 

Manaraga, Vladimir Sorokin, Collage (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker - kekinwien.at

Manaraga, Vladimir Sorokin, Collage (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker – kekinwien.at

 

Manaraga. Tagebuch eines Meisterkochs

Vladimir Sorokin

 

Buchdetails:

  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Erscheinungsdatum: 8. November 2018
  • Ausgabe: fester Einband
  • ISBN: 9783462051261
  • Sprache: Deutsch
  • Umfang: 256 Seiten
  • gesehen um ca. Euro 17,00

 

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