Denn sie sterben jung

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Denn sie sterben jung

Ein mexikanisches Familienpuzzle.

Dieser Roman von Antonio Ruiz-Camacho besteht aus einer Reihe von Kurzgeschichten eine Familie betreffend, die am Ende zu einer großen Einheit und einem Gesamtbild – quasi einer Familienchronik – zusammengesetzt werden sollten. Normalerweise bin ich ja eine denkbar schlechte Rezensentin für Short-Stories, da ich viel zu sehr auf Figurenentwicklung und Plotgestaltung achte. Deshalb bleibt auf so wenigen Seiten meist einfach zu wenig Raum, um meine Anforderungen an eine gute Geschichte zu erfüllen. Dieses eher ungewöhnliche Stilmittel hat mich dann aber dennoch sehr interessiert und herausgefordert, zumal mir der ähnlich gestrickte Roman Ruhm von Daniel Kehlmann bereits vor Jahren sehr gut gefallen hat.

In wirklich kurzen Geschichten wird ein Abriss von Figuren der Familie Artega, die in der gesamten Welt verstreut leben, sehr grob skizziert. Wie bei den meisten lateinamerikanischen Familien üblich, führen Kinderreichtum, Namensgleichheiten von Vater und Sohn, uneheliche Kinder und viele Domestiken in den einzelnen Haushalten zu extrem viel Personal im Roman und ordentlicher Verwirrung. Dem sind der Autor oder der Verlag oder beide gemeinsam sehr genial mit einem übersichtlich strukturierten Familienstammbaum zu Beginn des Buches entgegengetreten, in dem nicht nur alle Verwandtschaftsverhältnisse, sondern auch das Hauspersonal namentlich angeführt sind und zudem auch die Nummer der Kurzgeschichte, in der alle Figuren auftreten.

Nach und nach erfährt die Leser*in, indem er/sie immer wieder das Organigramm studiert, was wirklich passiert ist: Das Familienoberhaupt José Victoriano Artega wurde entführt und der Familie in kleinen Paketen in Einzelteilen per Boten zugestellt. Ob dieser Bedrohung verlassen alle Verwandten das Land und stieben gleich einem Stern von Mexiko aus in viele Richtungen und Kontinente auseinander. Die Kurzgeschichten geben Auskunft, wie die einzelnen Familienmitglieder mit der Tragödie umgehen. Dabei entstehen durchaus auch spannende, kuriose Einzelschicksale und Geschichten wie die Story von einem Bären, der sich beim von der Polizei abgesperrten McDonalds an den Muffins gütlich tut, während sich die ehemaligen Hausangestellten, die nun illegal im Lande sind, vor Angst wegen der amtshandelnden Behörden fast in die Hose machen. Oder die Ehefrau Laura, die sich in der Diaspora aus Langeweile in einem Waschsalon einen jungen Mann aufreißt, mit dem sie den ultimativen sexuellen Kick durch eine Fahrt im Wäschetrockner erlebt.

Abseits der etwas kuriosen Einzelgeschichten erinnert die Rezeption des gesamten Plots – also die Chronik der gesamten Familie Artega seit der Entführung des Familienoberhauptes Don Victoriano – an ein kniffliges Puzzle, das auf Grund des eingangs erwähnten Organigramms doch recht leicht zusammenzusetzen ist. Mir hat es wirklich viel Spaß bereitet, dieses Bild Stück für Stück zu montieren. Aber ergibt das Puzzle ein schönes, detailreiches Gesamtbild? Oder hat es zu viel unstrukturierten, flachen blauen Himmel? Das ist hier die Frage, die sich jeder selbst für die eigene Rezeption des Romans beantworten muss.

Für mich waren die Einzelfiguren um eine Nuance zu farb- und substanzlos, vor allem auch, weil ich eigentlich viel zu wenige Geschichten über die Familienmitglieder gelesen habe, sehr viele Figuren fehlten völlig. Vielleicht hätten mehr beschriebene Protagonisten in einem längeren und dickeren Buch dieses Familiengeflecht für mich viel dichter, greifbarer und substantieller erscheinen lassen. Da war mir der Autor bei der Konzeption des großen Ganzen einfach ein bisschen zu minimalistisch beim Erzählen, zumal die „Gschichtln“ ja auch sprachlich gut fabuliert sind, vor innovativen Ideen strotzen und wirklich viel Freude machen. In diesem Fall hätte ich einfach gerne noch mehr erfahren.

Fazit: Wer das Stilmittel zusammengesetzter Kurzgeschichten zu einem Roman und die Erfahrung des Navigierens durch den Familienstammbaum gleich einem Spiel schätzt, wird seine helle Freude an dem Werk haben. Wer auf tiefe Figurenentwicklung Wert legt und vor dem Autor nicht den Hut ziehen kann, weil er mit einer derart minimalistischen Konstruktion die Familie, das Geschehen und die Verlorenheit der Diaspora nach der Katastrophe eben nicht ausreichend gut beschreiben konnte, wird ein Haar in der Suppe finden. Mir ging es in beiden Rezeptionsmodellen gleichermaßen so wie beschrieben. Einerseits habe ich diesen minimalistischen Aufbau und den Stilgriff des Romans sehr bewundert, andererseits bin ich traurig, da ich einfach auf sorgfältige Figurenentwicklung Wert lege. Insgesamt auf jeden Fall ein sehr gut konzipiertes, lesenswertes Buch!

 

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Denn sie sterben jung, Bild zum Buch (c) Alexandra Wögerbauer – Flicker – kekinwien.at

 

Antonio Ruiz Camacho, Denn sie sterben jung

Buchdetails

  • Aktuelle Ausgabe: 20. Juli 2018
  • Verlag:  C.H. Beck
  • ISBN: 978-3-406-72527-2
  • Hardcover 205 Seiten, 1 Stammbaum
  • hardcober gesehen um gesehen um Euro 19,95

(Beitragsbild: Collage zum Roman ‚Denn sie sterben jung‘, Bild (c) Alexandra Wögerbauer-Flicker)

 

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