Cannes 2012. MM ist der Regen egal...So ist das hier eigentlich nicht gedacht: Das Sauwetter, mit dem Cannes heuer während der Filmfestspiele aufwarten ließ, war dem Geist des Festivals stark gegenläufig.
Geht es doch hier für den Großteil der Menschen ums Defilee an der Croisette, das zur Schau Tragen bzw. Betrachten nackter Haut, und darum, das Nützliche des Geschäftlichen mit dem Angenehmen des klimatisch Mediterranen zu verbinden.

Branchenevent nennt sich das dann.

Jene, deren filmisches Œuvre erst in der Zukunft liegt, fühlen sich dabei der Branche ebenso zugehörig und beanspruchen selbstbewusst ihren Platz in der Weltenordnung, oftmals nach dem Motto: Frechheit siegt.
Macht man es sich zum Sport, bei jenen, die auf den frisch gedruckten Visitenkarten
„XY production“ oder „ independent writer/director“ stehen haben, ein wenig detaillierter nachzufragen, endet man oft bei einem Gestammel über Image Videos für den Betrieb des Onkels oder bei fünf bis zehn auf Verdacht verfassten Drehbüchen, die der Schauspieler XY gerade auf dem Nachtkastl liegen hat und die damit kurz vor dem Verkauf an eine große Produktionsfirma stehen.
Man könnte meinen, das in Cannes verblasene Volumen an heißer Luft müsste die verregnete Stadt trocken pusten, aber leider erregt es doch nur Schwindel und Kopfschmerzen. Also ab unter den Schirm und rauf auf die Piste der Partys und Empfänge.
Abu Dhabi soll heuer toll gewesen sein, und Brasilien auch. Australien kredenzt mit dem Logo eines Sodawasser-Sponsors chemisch vermixte picksüße Pseudococktails, die in kleinen Plastikflaschen gereicht werden und einen das Dreh-und-Drink der Kindheit oder zumindest eine normale Tupperware-Party herbei sehnen lassen. Korea reicht neben Riesengarnelen Instantsuppen und vor der Happy Hour der Holländer werden zur Sicherheit alle Anwesenden entfernt, die nicht holländisch reden.

Am Weg durch Cannes kommt gerade Sasha Baron Cohen im stilsicher goldenen Anzug vorbei und nimmt ein Bad in der Menge, und wenn’s auch nur die Gäste im überdachten Gastgarten eines Lokals sind. Nach einem halbstündigen Fußmarsch im Regen, zu dem einen ein „independent producer“ (ohne Track Record aber mit fünf Projekten, die gaanz knapp vor Greenlight stehen) überredet hat, steht man dann vor unerbittlichen Gatekeepern, die alle Namen, die man brav auswendig gelernt hat nicht kennen, und einen behandeln, als hätte man gerade mit vulgären Worten die Herausgabe ihrer Portemonnaies verlangt. Und man weiß, dass man hier ganz, ganz falsch ist: Nie wieder zu einer Party, zu der man nicht geladen ist, nie wieder Powernetworking am falschen Ort und nie wieder ein Versuch, mit einem der marktschreierischen Dampfplauderer ein ernsthaftes Gespräch zu führen!
Spätestens in diesem Moment sehnt man sich nach dem eigenen Schreibtisch und danach, die Stapel an Arbeit, die sich dort türmen, aufzuarbeiten; danach, alle jemals liegen gebliebenen E-Mails zu beantworten, und überhaupt alles, alles zu erledigen, was möglicher Weise jemandem anderem Kummer bereitet. Mit einem Wort: Man dürstet nach ehrlicher Arbeit, die einen von den Möchtegerns dieser Welt unterscheidet.

Doch dann besinnt man sich zum Glück und erinnert sich, warum man eigentlich hierher gekommen ist: Für den Augenblick, in dem im Saal das Licht ausgeht und jenes auf der Leinwand erscheint. Da gibt es zum Beispiel die Beiträge der beiden österreichischen Experten in Sachen Liebe.

Ulrich Seidl zeigt mit „Paradies: Liebe“ eine Abhandlung von eigener und gegenseitiger Erniedrigung anhand des weiblichen Sextourismus in Kenia und schafft damit einen eigentlich todtraurigen Film über sexuellen Marktwert vor dem Hintergrund der Weltökonomie. Der verzweifelte Versuch der Figuren, die Emotionalität, die sexuellen Handlungen nun einmal innewohnt, mit schonungsloser Distanzlosigkeit zum Schweigen zu bringen wird dabei schmerzhaft lebendig.

Michael Haneke wiederum inszeniert ein Kammerspiel über zwei sehr alte Menschen und ihren Umgang mit dem nahenden Tod, das souverän geradlinig und ungewöhnlich klassisch eine zarte, sehr berührende Geschichte erzählt.
Der Film zieht seine innere Kraft aus einer Traumebene, die „Amour“ hochpoetisch davor bewahrt, von seinen sozialdramatischen Elementen erschlagen zu werden. Jean-Louis Trintignant und Emmanuelle Riva tun ihr Übriges um diesem Film einen Sog zu verleihen, der schließlich auch die Jury erfasst zu haben scheint, die Haneke wohlverdient ein zweites Mal die Goldene verlieh.

Und da ist er wieder, dieser Moment:
Man ist über den roten Teppich herauf gekommen und sitzt nun im Saal. Auf der Leinwand kann man die von draußen Hereinkommenden betrachten. Jemand betritt den Raum. Das Volk erhebt sich und nimmt wieder Platz. Es sind ein paar Maestros, die hier vorbeischreiten: Kiarostami, Resnais, Polanski. Das Rauschen der Gewänder beim gemeinsamen Aufstehen und das endgültige Verstummen des Publikums beim Wieder-Hinsetzen erinnert frappierend an den Auftritt des Priesters in der Kirche.

Auch die 2012 geht die Goldene Palme an Haneke.Ja: An der Cote d’ Azur wird wieder dem Gott des Kinos gehuldigt. Dass die Hohepriester an diesem Ort von älteren Herren ausgewählt und ausschließlich männlich sind, drängt weitere Parallelen auf.

„Wir sind Kino!“, möchte man rufen.
Was hat noch einmal Francois Truffaut über Tradition gesagt: „Man kann niemanden überholen, wenn man in seine Fußstapfen tritt“. Vielleicht beschreibt das ja die Intention der Herren, die zum Feiern des Jubiläums unter sich bleiben wollen und sich von Frauen lieber feiern lassen: So lächelt Marylin lasziv vom Geburtstagsplakat.
Immerhin, das Wetter haben sie nicht im Griff, die alten Herren, das legt sich quer.

Dein Kommentar

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2 comments

  1. Junge Macher haben diesmal wirklich gefehlt aber vielleicht müssen sie sich wirklich erst von den Alten absetzen lernen. Gute Filme machen zu können hat immer schon eine gewisse Reife verlangt.

    • club

      reife und erfahrung sind sicher wichtige aspekte.
      und rookies einzuladen ist vermutlich ein risiko.

      andererseits, wenn ich an herzensbrecher oder die vaterlosen denke, habe ich zwei wunderbare erstlinge vor meinem geistigen auge.
      gleichviel.

      reife ist gut, aber wie soll erkärt werden, dass es keine einzige frau mit ihrem film in den wettbewerb geschafft hat?

      keke grüße,
      club